Hunderte Deutsche ziehen nach Syrien, Irak und Afghanistan

Stand: 29.07.2022| Lesedauer: 5 Minuten

Von Marcel Leubecher
Politikredakteur

Abgesehen von kurzen Reisen gibt es jährlich auch einige Umzüge von Personen mit deutschem Pass in die Hauptherkunftsstaaten von Asylbewerbern. Doch wen zieht es von der Bundesrepublik nach Syrien, Irak, Afghanistan? Mitarbeiter von Migrationsbehörden haben eine Mutmaßung. Quelle: Natnan Srisuwan /Getty Images ;
Montage: Infografik WELT/C. Görke

Wenn über Flüchtlinge berichtet wird, die für wichtige Familienereignisse in ihre Heimatländer reisen, sorgt dies regelmäßig für Verwunderung. Weil dies Zweifel daran weckt, ob jemand, der Heimaturlaube unternimmt, immer noch Schutz vor Krieg oder Verfolgung in Deutschland benötigt.

Wie häufig das stattfindet, wird nirgendwo erfasst. Beispielsweise berichteten aber Jobcenter-Mitarbeiter WELT, dass es immer mal wieder vorkomme, dass betreute Syrer in die Türkei flögen oder Afghanen in den Iran. Ob sie dann dort ihre Verwandten besuchen, wie bei den Job-Betreuern angegeben, oder in die benachbarten Heimatländer weiterziehen, erfahre man nicht.

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Abgesehen von solchen kurzen Reisen gibt es aber eine Erhebung, die Fortzüge in die Hauptherkunftsstaaten von Asylbewerbern erfasst. Laut der Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamtes zogen 2021 aus Deutschland 55 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit nach Syrien fort. Und andersherum 102 Deutsche aus Syrien nach Deutschland.

In den Irak zogen 2021 demnach 502 deutsche Staatsbürger - und 628 Deutsche aus dem Irak nach Deutschland. Nach Afghanistan zogen 59 Personen mit deutschem Pass um und von dort nach Deutschland 168.

Um welche Personengruppen es sich dabei handelt, wird nicht genauer erfasst. Laut Einschätzung einiger Mitarbeiter von Migrationsbehörden handelt es sich vermutlich überwiegend um in Deutschland eingebürgerte Syrer, Iraker und Afghanen, die nach einiger Zeit wieder ins Herkunftsland zurückziehen, beziehungsweise sich nach ein paar Monaten oder Jahren in der Heimat erneut in der Bundesrepublik niederlassen.

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Die Wiesbadener Statistiker antworten auf die WELT-Frage, ob es Hinweise gibt, dass es sich um solche Fälle handelt: "Die Fallkonstellation, die Sie beschrieben haben, erscheint plausibel, kann jedoch aus statistischem Datenmaterial nicht belegt werden."

Meist Doppelstaatler?

Falls in den betreffenden Statistiken neben der Kategorie deutsch und nichtdeutsch auch Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit separat gelistet würden, wäre die Frage leicht zu klären. Denn eingebürgerte Flüchtlinge dürfen anders als die meisten anderen Nicht-EU-Ausländer ihre alte Staatsangehörigkeit behalten. In der aktuellen Erfassungsweise werden aber alle Doppelstaatler ausschließlich als Deutsche geführt.

Wäre das anders, könnte man ablesen, ob die in die Asylherkunftsländer ziehenden Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit tatsächlich meist Doppelstaatler sind oder möglicherweise auch Deutsche, die beispielsweise sehr lange für Hilfsorganisationen oder Unternehmen in diesen Ländern gearbeitet hatten und dann wieder zurückkehrten.

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Jedenfalls handelt es sich bei den Hunderten erfassten Fällen von Deutschen, die in die Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern ziehen, nur um solche, die sich tatsächlich in Deutschland abmeldeten und bei denen der Zielort angegeben wurde. Denn falls dieser den Meldebehörden nicht bekannt ist, wird laut Statistischem Bundesamt "als Merkmalsausprägung für das Zielgebiet ‚ohne Angabe' eingesetzt".

In den Vorjahren sah es ähnlich aus: 2020 zogen 43 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit aus Deutschland nach Syrien (umgekehrt 78). In den Irak zogen in dem Jahr aus Deutschland 425 Deutsche (umgekehrt 576). Nach Afghanistan 55 und umgekehrt 111. Im Jahr 2019 wanderten 55 Deutsche aus der Bundesrepublik nach Syrien ab (89 umgekehrt). Nach Afghanistan 76 und von dort nach Deutschland 125. In den Irak 662 (umgekehrt 742). Im Jahr 2018 zogen 46 Deutsche nach Syrien und 85 hierher. Nach Afghanistan 63 und von dort hierher 138. In den Irak 636 (umgekehrt 917).

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Auffällig ist, dass in jedem einzelnen Jahr die Registrierungszahl der deutschen Staatsbürger, die aus den drei Asylherkunftsländern in die Bundesrepublik ziehen, höher ist, als die Registrierungszahl der Deutschen, die von hier dorthin abwandern. Dafür gibt es wohl keine sinnvolle Erklärung, außer die, dass tatsächlich mehr deutsche Staatsbürger zumindest vorübergehend nach Syrien, Irak und Afghanistan umziehen, als in der Wanderungsstatistik verzeichnet.

Diese Möglichkeit eröffnet auch die Erklärung des Statistischen Bundesamtes über die Art der Datenerhebung. Denn wenn Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit sich hierzulande abmelden, aber der Zielort der Meldebehörde nicht bekannt wird, landen sie in der Zielland-Kategorie "ohne Angabe".

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Dies betrifft insgesamt sehr viele Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit: So wurden im vergangenen Jahr 129.084 Fortzüge von Deutschen ins Ausland registriert, bei denen das Zielland ungeklärt war. Auch wenn Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit aus dem Ausland nach Deutschland umziehen, ist oft nicht klar, woher sie kommen. 91.486 Zuzüge von Deutschen aus dem Ausland wurden in der Bundesrepublik registriert, bei denen als Herkunftsland "ohne Angabe" eingetragen wurde.

Was sich bei allen Eigenarten und Deutungsmöglichkeiten der Statistik aber sicher sagen lässt, ist, dass jährlich Hunderte Personen mit deutschem Pass aus der Bundesrepublik in die drei Hauptherkunftsstaaten von Asylbewerbern fortziehen.

Große Diasporagruppen in Deutschland

Durch die Migrationspolitik der vorherigen Bundesregierungen, die von der Union geführt und von der SPD beziehungsweise der FDP mitgetragen wurden, haben sich inzwischen sehr große Diasporagruppen dieser drei Staaten in der Bundesrepublik gebildet. Inzwischen leben fast 880.000 Syrer in Deutschland, 2010 waren es 30.000. Die Zahl der hier lebenden Afghanen stieg von 51.000 auf 335.000, bei den Irakern von 81.000 auf 280.000.

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Wer nicht schwer straffällig wird und einige formale Integrationskriterien erfüllt, kann in der Regel acht Jahre nach Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen; bei besonderem beruflichen Erfolg, bestandenem Integrationskurs und ehrenamtlichem Engagement etwa in der Freiwilligen Feuerwehr oder als Flüchtlingsdolmetscher schon nach sechs Jahren.

Das Einbürgerungskriterium "Sicherung des eigenen Lebensunterhalts", muss - anders als häufig öffentlich kommuniziert - nicht immer erfüllt sein, wie WELT AM SONNTAG kürzlich recherchiert hatte. Und zwar nicht nur bei "Ermessenseinbürgerungen", das waren 34.700 von 131.600 aller Einbürgerungen 2021, sondern auch bei Anspruchseinbürgerungen.


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